eine absolute Herausforderung
Schon vor einigen Jahren sah ich diesen Film das erste Mal. Der Film hat mich sprachlos gemacht – sprachlos deshalb, weil ich keine Worte finden konnte, die hätten beschreiben können, wie ich dachte und fühlte, als der Film zu Ende war.
„Gnade“ ist wuchtig, voll und herausfordernd. Wir können nicht einfach nur zuschauen, uns ein Bild von der Geschichte machen, abwarten, wie sich alles ergibt. Wir sind gefordert, weil wir ständig uns selbst befragen müssen, weil wir geprüft werden, weil wir letztendlich selbst entscheiden müssen. Entscheiden über gut und böse, über richtig und falsch, über moralisch und unmoralisch, über gerecht und ungerecht … Mein Gewissen kann sich dem nicht entziehen und wird unweigerlich in diesen Sog des Films hineingezogen. Das ist zwar anstrengend, aber es rüttelt uns auch wach und letztendlich ist es das, was ich an Filmen wie diesen so schätze: die ganz großen Dinge des Lebens so deutlich und klar, dass sie beinahe unangenehm werden und doch zeigen, wie es im Leben genau auf sie ankommt und wie notwendig es ist, sich ihnen gegenüber nicht zu verschließen.
Wenn du plötzlich schuldig bist …
Eine Kleinfamilie (Vater, Mutter, Sohn) wandert aus Deutschland aus und beginnt ein neues Leben hoch oben im Norden am Polarkreis. Grund dafür ist zunächst die berufliche Perspektive, die der Vater in dieser neuen Chance sieht. Doch scheint es auch eine Art Weglaufen vorm Alten zu sein, Aufgabe von lästigen Gewohnheiten, Abschütteln unschöner Erfahrungen in der Beziehung der beiden Eltern und der große Traum eines Neubeginns für das Paar und die Familie. Dass diese zweite Chance nicht allen Mut macht und sich nicht nur positiv auf die Familie auswirkt, stellt sich schnell heraus. Auch im „neuen Leben“ kämpfen alle um ihren Platz innerhalb dieser Dreierkonstellation, um ein Gefühl der Geborgenheit und Sicherheit – jeder auf seine Art und teilweise auf recht ungewöhnliche aber auch nachvollziehbare Weise.
Bis dann etwas Schreckliches passiert: Die Mutter, Maria, fährt des nachts auf dem Heimweg von der Arbeit ein Mädchen aus der Nachbarschaft an, geht jedoch nicht davon aus, etwas Schlimmes getan zu haben, sondern vermutet, höchstens ein Tier angefahren zu haben. Das Mädchen verstirbt noch in derselben Nacht am Unfallort. Maria erfährt davon erst, als es längst zu spät ist. Sie erlebt diesen kurzen Moment der Starre, die sich dann sofort in Angst umwandelt. Angst, alles zu verlieren, Angst vor der Isolation, Angst, ihren Sohn im Stich zu lassen, Angst, die Wahrheit anzuerkennen und danach zu handeln.
Und so nimmt der Film an Fahrt auf und zeigt ein sich immer schneller drehendes Rad des Schweigens, der Resignation, Konfrontation und Verzweiflung. Was tun? Was ist richtig? Wer bin ich? Was darf ich? Wo ist Schluss?
Wie würde ich entscheiden?
Als Zuschauer sind wir hin- und hergerissen zwischen der Anklage und dem Mitgefühl und müssen uns zwangsläufig fragen, wie wir entscheiden würden, wären wir in der Situation von Maria, aber auch in der des Mannes und seines Sohnes.
Am Ende gibt es eine Entscheidung, die uns einen möglichen Weg aufzeigt. Wir stellen uns nicht die Frage, ob diese richtig oder falsch ist, sondern kehren zurück zum Filmtitel. Dann verstehe ich vielleicht ein kleines bisschen mehr, was Gnade bedeuten kann. Es gäbe zig andere hervorragende Titel für diesen Film, doch macht die Wahl dieses Titels den Film noch mehr zu einem sehr besonderen Kino-Erlebnis. Noch nie habe ich einen Film gesehen, in dem der Titel so stark und prägend für den Inhalt war, wie er es hier ist!
Ein absolut empfehlenswertes Gesamtpaket aus Anspruch, Dichte, Weite, Offenheit, Nachklang und all das in Kombination mit den herausragenden Schauspielern Birgit Minichmayr und Jürgen Vogel!!!